Zschokke-Rede(177)
"Architektur genießen" von Walter ZschokkeArchitektur kommunizieren
anlässlich der Ausstellungseröffnung "Architektur kommunizieren"
in Tulln, 27. Juni 2003
Die Kunstwerke der Architektur sind in ihrer Wirkung zumeist und durchaus nachhaltig. Man denke beispielsweise an das 123 n.Chr. erbaute Pantheon in Rom, das uns noch heute wegen seiner räumlichen Qualität beeindruckt. Es ist also zum einen die lange Lebensdauer vieler Bauten, die sie über die Lebenszeit ihrer Entwerfer und Bauherren hinaus überdauern lässt, aber auch über gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse hinaus, sodass die Bedeutung der Architektur sich von den Bedingungen der Entstehungszeit löst und von diesen unabhängig mit den Jahrzehnten einen autonomen Charakter gewinnt und für sich selbst steht.
Der hohe Kapitaleinsatz bedingt bei Neubauten nicht selten Ansprüche über eine bloße Zweckerfüllung hinaus, beispielsweise Sicherheit, Vertrautheit, Repräsentation, aber auch Innovation, Zukunftshoffnung und Leistungsfähigkeit der Bauherrschaft; dabei wird die Symbolkraft von Architektur genützt.
Ein guter Architekt, ebenso eine gute Architektin vermögen nun die pragmatischen Bedürfnisse zugleich mit ihren persönlichen künstlerischen Ambitionen zu erfüllen, sodass ein Bauwerk sowohl ein gemeinsames als auch ein individuelles Werk ist, ohne dass sich zwischen den beiden Ansprüchen eine Diskrepanz öffnen muss.
Unsere Ausstellung zeigt Bauten, die etwa fünf bis fünfzehn Jahre alt sind, also teilweise bereits vertraut, obwohl damals oft stark kontroversiell diskutiert. Heute lassen sich ihre Qualitäten entspannter abhandeln und besprechen. “Neu3 ist in der Architektur eine rasch verblassende Kategorie; Engagement, Konsequenz, Sorgfalt, Angemessenheit und Integration in den städtebaulichen Kontext jedoch sind Beurteilungskriterien, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte Gültigkeit behalten - eben kulturell nachhaltig sind.
Die nachhaltige Wirkung von Architektur beruht zu einem guten Teil darauf, dass Bauwerke öffentlich einsehbar sind, und von jedem, der will, wahrgenommen werden können.
Mit “wahrnehmen3 oder “Anschauung betreiben3 meine ich etwas ganz anderes als ein vordergründiges Beurteilen im Sinne von “gefällt3,- “gefällt nicht3. Wahrnehmen heißt, ein Bauwrk möglichst unvoreingenommen auf seine offenen Sinne wirken zu lassen, ohne bereits wissen zu wollen, ob es gefallen wird oder nicht; ohne bereits wissen zu wollen, ob sein Entwerfer ein Star, ein Newcomer oder ein Nobody ist, um es vorsorglich in eine Hitliste einzuordnen; auch ohne nach etwaigen Stilelementen zu suchen, nach denen es im Vergleich mit anderen Bauten beurteilt und “eingestuft3 werden könnte.
Wahrnehmen von Architektur heißt daher, sich dem Bauwerk schrittweise umkreisend zu nähern und einzutreten, im Geiste Oberflächen zu durchdringen, die Struktur der Räume und jene der Konstruktion zu erfassen, ihr Zusammenwirken oder ihr Nebeneinander-Stehen zu ergründen.
Dabei sind anfangs keine besonderen Fachkenntnisse vonnöten, sie werden anwachsen mit zunehmender Praxis in der Architekturwahrnehmung. Fragen tauchen auf, die man Fachleuten stellen kann, oder die sich mit der Zeit von selbst klären.
Zurück zur Ausstellung, die im wesentlichen Fotografien von Bauwerken zeigt. Fotografien, die von professionellen Architekturfotografinnen und -fotografen aufgenommen wurden. Ihre Professionalität bezieht sich - abgesehen vom Fotografenhandwerk - auf die Wahrnehmung von Architektur. Oft gelingt es ihnen, das Wesen eines Bauwerks in wenigen oder gar bloß einem Bild zu erfassen. Selbstverständlich handelt es sich dabei um Interpretationen, aber um Interpretationen mit professionellem Tiefgang und feinfühligem Blick. Sie bieten Nichtfachleuten einen Einstieg in ein zeitgenössisches Architekturverständnis. Der nachvollziehenden Betrachtung vor den Bildern mag die Konfrontation vor und im originalen Bauwerk erfolgen. Später wagt man vielleicht die Teilnehme an einer Bautenbesichtigung unter kundiger Anleitung. Wohin soll das führen?
Dahin, dass kulturinteressierte Menschen Architektur genießen können, wie sie die Leistungen anderer künstlerischer Disziplinen, aus Musik, Theater, Malerei, Plastik, Film, Literatur usw. genießen können, indem sie immer tiefer in das Gebiet und den Gegenstand eindringen, zum Wesen eines Werks vordringen und Erkennen wie Erfühlen gleichwertig einwirken und sich auswirken lassen.
Und wozu das alles? Mit der Entwicklung einer feinfühligeren Wahrnehmung wird unsere gebaute Umwelt reich und reicher. Man lernt immer mehr zu unterscheiden und Dinge zu sehen, von denen man zuvor keine Ahnung hatte. Damit wird das tägliche Leben spannender und reichhaltiger. Die Welt wird mancherorts schöner - mancherorts, muss ich zugeben, auch hässlicher. Aber bei all dem dürfen wir nicht vergessen, dass Architekturwahrnehmen nichts oder eher wenig kostet, denn die Architektur ist und bleibt glücklicherweise eine öffentliche Kunst.
Arch. Dr. Walter Zschokke
Seidengasse 26
1070 Wien
w.zschokke