Aylin Pittner-Pratscher
Liebe Aylin Pittner-Pratscher du kennst ORTE schon länger – erinnerst du dich noch an deine erste Begegnung?
Das war eine für mich aufregende Vorstandssitzung, da die Tagesordnung Themen wiedergab, die ich als wichtig empfand. Auf Augenhöhe mit Gleichgesinnten einen Austausch zu finden – das war und ist immer eine Freude und schätze ich sehr.
Wie hat sich die Initiative deiner Meinung nach verändert – und worin liegt heute ihr besonderer Mehrwert?
Jede Zeit beansprucht für sich ihre eigenen Themen. ORTE schafft den Diskurs am Puls und ist brückenschlagend für alle.
Du hast Architektur studiert. Gab es damals einen Schlüsselmoment – eine Begegnung, ein Gebäude, vielleicht ein rebellischer Gedanke – der dich dazu gebracht hat, diesen Weg einzuschlagen?
Im Sommer nach der Matura gingen meine damals beste Freundin und ich auf eine Interrailreise und wohl auch unbewusst auf einen einmonatigen Selbstfindungstrip quer durch Italien. Mit einem guten Architekturführer in der Hand beinahe alle italienischen Kulturbauten und Städte niederreißend, gab es das wohl kitschigste persönliche Momentum – im Petersdom in Rom – wo ich nur mehr dastand und dachte, dass ich genau das machen will. Die Frage zu lösen, wie es zu schaffen ist, dass das einfallende, natürliche Licht in dieser Weise einen Raum betritt und selbst Raum bildet. Retrospektiv betrachtet sind gleichfalls meine Sommer während meiner Kindheit und Jugend in Istanbul prägend für die Leidenschaft für Architektur und Baukultur gewesen. Ähnliche Momente gab es davor in der Sultan Ahmed Camii, im Dolmabahҫe Palast, dem Bahnhof Sirkeci. Ich war fasziniert davon, wie Jahr um Jahr neue Stadtquartiere scheinbar mühelos rund um historische Strukturen in Istanbul entstanden. Damals hatte ich von qualitativem oder nachhaltigem Bauen noch keinen Begriff.
Oder hattest du auch ganz andere Pläne?
Nach einem Jahr des Architekturstudiums an der TU Wien stieg ich auf ein Studium der Rechtswissenschaften am Juridicum Wien um. An der TU Wien fingen damals rund 2.000 Gleichgesinnte das Hochbaustudium an und mit meinem Abschluss von einem Musikgymnasium ohne technische Vorkenntnisse war ich völlig überfordert. Im Folgejahr kehrte ich zur Architektur an der TU Wien zurück und begann von vorne, ohne zurückzuschauen.
Gibt es eine Epoche, ein Werk oder eine Persönlichkeit – in oder außerhalb der Architektur – die dich bis heute inspiriert?
Luis Barragán und Yves Saint Laurent stechen für mich aus einer Reihe großer, meisterlich Schaffender heraus. Interessanterweise habe ich meine eigene stark vorhandene Emotionalität für gebaute Räume einzig in Barragáns Antworten finden können. Obwohl auch er von Le Corbusier und anderen inspiriert war, komme ich nicht umhin, große Bewunderung für sein fast unerbittliches Aufdrängen, einen Raum nach seinen Vorgaben zu erleben, auszusprechen. Eine zweiwöchige Studienreise mit Martha Enríquez-Reinberg und Erich Raith und Studierenden von der TU Wien nach Mexiko in den frühen 2000er Jahren hat mir ermöglicht, seine Architektur zu erleben und mehr als Kunstsprache zu verstehen. Dort begegnete mir auch das erste Mal der Ansatz von Kunst im öffentlichen Raum, die zu der Zeit der Realisierung seiner Projekte in Österreich als ein Begriff für Kunst am Bau verstanden wurde. Die Faszination für Yves Saint Laurents Vermächtnis war gleichfalls prägend für mein Leben. Als 14-Jährige versuchte ich einen Hosenanzug nach seinem Entwurf zu nähen. Der Versuch resultierte in ein Kostüm. Ein persönlicher Traum wäre es, Jardin Majorelle zu besichtigen.
Wer oder was liefert dir Antrieb und Haltung fürs eigene Tun?
Besser geht immer, ist so eine Art Lebensmotto. Den eigenen Anspruch, beitragen zu dürfen, dass Baukultur Kenntnis, gar Weiterentwicklung erhält.
Heute bist du in der Abteilung Kunst & Kultur des Landes Niederösterreich tätig.
Woran arbeitest du konkret – und an welchen Stellen kreuzen sich deine Aufgaben mit Baukultur und Architektur?
Mein Kernaufgabenbereich umfasst die Abwicklung von Förderungen für den Sachbereich Architektur und Design, fachliche Begutachtungen, fachliche Begleitung des Kulturpreises in der Kategorie Architektur und Mitarbeit im Fachbereich Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich. Hier bin ich vor allem für das Archiv und die Betreuung als auch Abwicklung von Restaurierungsfällen von KOERNOE Projekten zuständig.
Blick auf Niederösterreich: Welche Themen brennen dir räumlich, planerisch oder gesellschaftlich gerade besonders unter den Nägeln? Wo siehst du die größten Herausforderungen – und vielleicht auch die spannendsten Chancen?
In den letzten Jahren haben die partizipativen Projektentwicklungen immer mehr in Gemeinden Einzug gehalten. Dennoch nehme ich vereinzelt war, dass es in manchen Fällen an der Umsetzung hapert. Viele Initiativen werden über die Ländergrenzen hinweg begleitet. Heuer haben wir beispielsweise ein Projekt „Spaces for Youth“ – einen offenen Ideenwettbewerb für den öffentlichen Raum für Jugendliche in Mistelbach gefördert. Der Prozess wird von wonderland – platform for european architecture betreut. Die Vernetzung von Fachleuten steht im Vordergrund, jedoch ist auf eine Betreuung der Implementierung ein Hauptaugenmerk gelegt. Dabei sehe ich es als größte Herausforderung alle Beteiligten im Prozess an denselben Tisch zu bringen. Die Kommunikation untereinander – und das möchte ich betonen, auch das gegenseitige Verstehen, um was es eigentlich geht, welches Potential oder welche Grenzen das jeweilige Projekt innehat - und die Transparenz der Vorgänge, sind die wichtigsten Instrumente, um eine Konzeptidee aufgehen zu lassen.
Wenn du in deinem beruflichen Umfeld eine Sache sofort ändern könntest – egal ob strukturell, politisch oder mental – was wäre das?
Bildungsreformen würden mir viel bedeuten. Und das auf mehreren Ebenen. Ein Wunschtraum wäre es, die Vermittlung von baukulturellen Inhalten früh zu verankern. Sozusagen als bildungspolitische Selbstverständlichkeit zu etablieren. Realistischer ist die Reform in der Ausbildung zum Planer, zur Planerin. Da ist noch viel Luft nach oben.
Welches Gebäude – egal ob um die Ecke oder am anderen Ende der Welt – hat dich nachhaltig beeindruckt?
Das war ein Besuch des Solomon R. Guggenheim Museums in New York City Ende der 1990er Jahre.
Und warum genau dieses?
Diese Interviewfrage empfand ich unter allen Fragen als die schwierigste. Es ist immer schwer zu sagen, warum ausgerechnet unter allen Bauten, die man im Laufe seines Lebens das Glück hatte, besichtigen zu dürfen, eines hervorsticht? Es hat auch viel mit der eigenen Stimmung zu tun, wenn man ein Gebäude betritt. Wie man einen Raum spürt und liest. Es ist für mich seither nie mehr selbstverständlich gewesen, ein Bauwerk als Gesamtheit so anzunehmen, wie es damals beim Guggenheim Museum war.
Wenn du ORTE einen Wunsch oder Rat mit auf den Weg geben könntest: Welcher wäre das?
Mich hat ein Satz von Barragán geprägt, der in der Rede bei der Verleihung des Pritzker-Preises für Baukunst 1980 an den Architekten ausformuliert wurde: „Jedes architektonische Werk, das keinen Frieden ausstrahlt, ist ein Fehler.“ ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich formt seit über 30 Jahren das Sprachrohr für das Geschehen rund um die niederösterreichische Baukultur.
Zum Schluss, ganz grundsätzlich: Wo siehst du den größten Handlungsbedarf – und gleichzeitig das größte Potenzial – für eine zukunftsfähige Baukultur in (Nieder)Österreich?
Dem Ruf nach Reformen zu folgen, ist ein langwieriger, manchmal umstrittener Prozess. Dennoch wurde mit der Veröffentlichung der Novelle der NÖ Bauordnung am 17. März dieses Jahres ein wichtiger Schritt gesetzt. Weitere Schritte in die Richtung einer Vereinfachung für Bauen und Sanieren in Niederösterreich stehen kurz vor ihrer Beschlussfassung. Wir sind auf dem Weg.
Aylin Pittner-Pratscher, kooptiertes Mitglied, im schriftlichen Interview, Dezember 2025
Aylin Pittner-Pratscher studierte Architektur und schloss den postgradualen Universitätslehrgang Building Science and Technology - ersteres mit Auszeichnung - an der Technischen Universität Wien ab. Ihr Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit der Nutzbarkeit von Nichtorten. Sie arbeitete an verschiedenen Architektur-, Grafik- und Kunstprojekten mit, setzte selbst Kunstarbeiten im öffentlichen Raum sowie Grafik- und Bauprojekte um. Durch die Geburt ihrer Tochter zog Pittner-Pratscher nach St. Pölten, woher ihre Familie stammt, zurück und begann 2012 für die Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich, Fachbereich in der Abteilung Kunst und Kultur des Landes NÖ tätig zu werden. Seit 2018 leitet sie den Fachbereich Architektur in der Abteilung Kunst und Kultur des Landes NÖ.

