Barbara Calas-Reiberger und David Calas im Gespräch
im Gespräch
Liebe Barbara, lieber David, ihr seid erst seit dem letzten Jahr Mitglied bei ORTE. Wie seid ihr auf ORTE aufmerksam geworden?
Da wir öfters Veranstaltungen und Ausstellungen von ORTE besuchen und auch in Vergangenheit besucht haben, schätzen wir das Programm sowie den Austausch und die angenehme Atmosphäre sehr. Seit wir vermehrt auch in Niederösterreich beruflich und aktivistisch im Bereich (Um)Baukultur aktiv sind, ist eine Mitgliedschaft die logische Schlussfolgerung.
Ihr seid ja selbst in Niederösterreichs Baukultur vermittelnd aktiv? Erzählt uns mehr darüber …
(Um- sowie weiter-)Baukultur ist für uns ein sehr undefinierter Begriff mit viel Interpretationsspielraum. Deshalb versuchen wir im Kleinen Themen zu positionieren und breiter, insbesondere über die Architekt:innen „Bubble“ hinaus, zu kommunizieren. Wir sehen Baukultur als ein Thema an, das die ganze Gesellschaft sowie Umwelt betrifft. Dies ist mitunter der Grund weshalb wir möglichst viele Menschen erreichen und zum Austausch motivieren möchten. Dies erfolgt einerseits über das Textliche im kostenfreien Magazin „Niederösterreich Gestalten“, wo niederschwellig gute architektonische und ortsplanerische Beispiele viele Haushalte in NÖ erreichen. Andererseits gehen wir auch mit gutem Beispiel in der baulichen Praxis, sozusagen „aktivistisch“, voran. Wir haben uns seit 2021 einer ehemaligen leerstehenden Strickwarenfabrik in Hirschbach (www.dietextilfabrik.at) angenommen und versuchen diese seither für die Öffentlichkeit durch verschiedene kulturelle Formate zwischen zu nutzen. In diesem Jahr entstehen auch konkrete Schritte hinsichtlich der Findung einer Baugruppe für gemeinschaftliches Wohnen in der Textilfabrik und somit hoffentlich eine Überführung des Gebäudes in eine permanente Nutzung. Dieser Prozess wird mit einem Forschungsprojekt der NÖ Wohnbauforschung unter dem Titel „Junges Wohnen+ - Gemeinschaftliches Wohnen im großvolumigen Leerstand am Beispiel der ehemaligen Strickwarenfabrik Hirschbach“ begleitet. Zudem wurde im Rahmen der Leerstandsaktivierung der Textilfabrik, unterstützt durch das Hans-Hollein-Stipendium, das Ausstellungsformat „Textiles Erbe | Aktive Zukunft“ realisiert. Als Wanderausstellung konzipiert, zeigt die Ausstellung einen kleinen Teil des unsichtbaren und teilweise leerstehenden textilen Erbes im Waldviertel. Übergeordnete Handlungsfelder, wie Beteiligung, Bewusstseinsbildung und Umgang mit Bestand runden das Ausstellungsformat mit Texten und Praxisbeispielen ab.
Weiters versuchen wir uns beratend und planerisch in der Ortsentwicklung auf Gemeindeebene proaktiv und durch Einladungen mit unserem gemeinsam geführten Studio Calas einzubringen. Auf strategischer aber auch auf umsetzungsorientierter Ebene gehen wir partizipativ und über Positionspapiere, die meistens vom gesamten Gemeinderat angenommen werden, an Szenarien für den öffentlichen Raum sowie Leerstandsaktivierung heran. Dabei versuchen wir auch sinnvolle Förderungen, wie letztens jene des Flächenrecyclings des Bundesministeriums für Klimaschutz, abzugreifen.
Somit sehen wir unsere Vorgehensweise in Sachen Baukulturvermittlung sehr breit aufgestellt und stets auf Wirkung sowie Resonanz ausgelegt.
Wie kam es, dass ihr Architektur studiert habt? Erinnert ihr euch an eure Impulse dazu?
Einfach drauf „loszustudieren“ war für uns keine Option, da wir uns das Studium erarbeiten mussten. Es überwog der Wille, ein kulturelles Handwerk mit Sinn akademisch zu erlernen. Wobei dieser anfangs nicht gerade auf fruchtbaren Boden fiel. Architektur musste, so die Vermittlung vor nicht allzu langer Zeit, überwiegend eine Bewegung durch Form haben, Präsenz zeigen, einen Eindruck hinterlassen und manchmal „knallen“. Wir haben für uns definiert, dass Architektur einen weitaus differenzierteren Einfluss haben und sich mit Leistbarkeit, Nachhaltigkeit, Umgang mit dem „was da ist“ sowie Soziokultur auseinandersetzen sollte. Deswegen gab es einige wenige aber sehr einflussreiche Impulse. In dieser Hinsicht sind uns Professorin Françoise-Hélène Jourda und Professor Nott Caviezel gut in Erinnerung geblieben. „Unseren“ Weg haben wir dann irgendwie, nach Erfahrungen in international tätigen Büros sowie akademischer Lehre/Forschung, in der Selbstständigkeit gefunden. Davon sollen auch unsere im Maßstab sehr unterschiedlichen Projekte zeugen. Wir lernen immer dazu und begeben uns bewusst in lernende Situationen.
Wohin hätte euch eure berufliche Leidenschaft geführt, wenn ihr nicht ArchitektIn geworden wäret?
Darüber haben wir eigentlich nie nachgedacht. Höchstwahrscheinlich in die Raumplanung oder Kunstgeschichte. Obwohl ich (Barbara) bereits ein Kolleg für Möbeldesign und Innenarchitektur vor dem Studium absolviert habe. Während ich (David) während dem Architekturstudium auch Politikwissenschaften, mit Fokus auf Governancestrukturen, studieren durfte.
Irgendwie schaffen wir es Themen von diesen Zusatzstudien miteinander zu verbinden. Das macht uns glücklich. Denn lediglich Architektur im klassischen Sinne zu bearbeiten, war uns stets zu wenig und mittlerweile für kleine junge Büros, wie das unsere, auch schwierig.
Gibt es eine Epoche oder eine Person in der Architekturgeschichte, die euch inspiriert und die Anregungen für euch oder überhaupt das heutige Bauen bieten könnte?
Da gibt es sehr viele! Immer wieder begeistern uns die Situationisten, wo viele Architekt:innen mitgewirkt haben und modernistische Ideale der Architektur sowie gesellschaftliche Normen stark hinterfragt wurden. Die damalige Energie und Organisationskraft der Gruppe wirkt für uns heute noch ansteckend. Margarete Schütte-Lihotzky zeigte, wie auch in schweren Zeiten sinnvoller Umgang mit Architektur praktiziert werden kann. Sehr inspirierend. Ansonsten sind es auch Menschen, die durch wesentliche Architekturen, großes bewirken. Spontan fällt uns da Glenn Murcutt ein.
Wir glauben, dass das Potpourri an sinnvollem Umgang mit (weiter)bauen uns allgemein anregt. Da gehören auch sicherlich „informelle“ Bauten, jene ohne Architekt:innen dazu.
Welche Aufgaben beschäftigen euch derzeit beruflich?
Im Moment sind wir mit NÖ Wohnbauforschungen zu jungem Wohnen sowie Wohnen im dritten Lebensabschnitt beschäftigt. Da braucht es in der Region eigene Ansätze die sich mit Abwanderung, Pflege und Vereinsamung beschäftigen. Ein sehr herausforderndes Thema! Strategische Ortsentwicklungspläne führen wir parallel weiter, damit die Umsetzungsebene gekoppelt mit Ausschreibungen und somit eine Überführung in die Realität erreicht wird. In dieser Hinsicht sind wir auch in der Gestaltung des öffentlichen Raumes bei Projekten im Waldviertel sowie Bozen/Südtirol eingebunden.
Wir arbeiten auch an Umbauprojekten von kleineren Höfen. Parallel sind wir auch mit einem größeren Neubau beschäftigt, der mehrere Funktionen geschichtet beherbergen soll. Unser Ansatz, ein großes Haus für die Ewigkeit bauen zu wollen, stieß bei den Bauherren auf Interesse. Deswegen versuchen wir uns an einer massiven Hülle, die fast eine 90% flexible Anordnung und somit eine Funktionsneutralität im Innenraum zulässt und somit immer wieder Adaptierungen der Grundrisse zulässt. Lediglich Nasszellen und Schächte sowie Stiegenaufgang sind fix.
Ein weiteres Projekt beschäftigt sich mit einem kleinvolumigen Hotelbau, der sich aus einem massiven Sockel als Anbau an einem bestehenden Gebäude sowie einem sich darüber entwickelnden vorgefertigten modularen Holzbau zusammensetzt.
Interiorprojekte, wo auf Wiederverwendbarkeit und Zirkularität geachtet werden, runden unseren maßstabsübergreifenden Aufgabenbereich ab.
Was würdet ihr - im Zusammenhang mit eurem beruflichen Umfeld - gerne ändern können?
Viel! Aber kontextfreie Wünsche zu äußern, halten wir für wenig authentisch. Wir gehen lieber mit möglichst gutem Beispiel im jeweiligen Kontext voran. Dabei orientieren wir uns an einem erweiterten Wunsch an die Architektur, der reparierend, miteinbeziehend und sozial sowie ökologisch verträglich agiert. Je nach Begebenheit.
Zur regionalen Situation in Niederösterreich: Was sind die dringendsten Fragen, auf die die Architektur und Raumplanung in den nächsten Jahren wird Antworten liefern müssen?
Ebenfalls viel und systemisch miteinander verbunden, weswegen auf Architektur und Raumplanung eine erhöhte Komplexität zukommt. Generell geht es um Umbaukultur, Weiterbaukultur, Bodenschutz, Schulungen für Handwerker:innen, eine planerische Ausbildung die sich dezidiert mit ländlichen Situationen auseinandersetzt und vor allem um die Findung eines gemeinsamen Weges mit Gemeindevertreter:innen in Sachen Ortsplanung. Dazu gesellt sich auch die Notwendigkeit breit angelegte Partizipationsprozesse und Miteinbeziehungsstrategien zu ermöglichen, wodurch der Planungs- und Baukulturdiskurs einen Einzug ins tagtägliche findet. Strategische Kooperationen, gute Praxisbeispiele und breite Kommunikation müssen für einen notwendigen Schub sorgen.
Und es gibt noch andere Fragen, die sich stellen: Welche Identität haben unsere Orte, wer oder was prägt diese?
Generell geht durch den niederösterreichischen Modus Operandi von Abriss-Neubau-Repeat Identität und Kultur verloren. Wir konnten das gut in Gemeinden nachvollziehen, wo wir über Beteiligungsverfahren die Bezugslosigkeit zum Ortszentrum und den historischen Gebäuden festgestellt haben. Dies haben wir als äußerst besorgniserregend wahrgenommen, da damit das wohl sichtbarste Kulturgut über Generationen total verloren geht. Die Verbindung zum Gebauten löst sich auf und durch Orientierungslosigkeit entsteht lediglich eine blinde Trendfolge. Dies ist klar bei Werbungen, die den Wohntraum vermitteln, ablesbar. Es ist oftmals verwunderlich mit wie wenig Wohnqualität und gekoppelter lebenslanger Verschuldung sich Menschen zufriedengeben. Da müssen andere Narrativen greifen, die sich wirtschaftlich abbilden und mit qualitätsvollem Wohnen verbinden lassen.
Wo sind die gebauten Zeugen unterschiedlicher Epochen, mit ihren typischen und unverwechselbaren Eigenheiten, die mit den Orten und ihren Bewohner:innen verbunden sind?
Überall eigentlich. Sie werden jedoch vielmals als „oid“ und „schiach“ betitelt. Auch weil sich die Menschen, die Eigentümer:innen, oftmals aus finanziellen Gründen, nicht darum kümmern. Diese Stigmatisierung lässt sich durch eine erneute Vermittlung von Schönheit im Ort, wo sozialer Austausch möglich ist und fußläufig alle wichtigen Funktionen des Lebens erreicht werden können, entschärfen. Diese lässt sich aber auch durch eine bewusste Förderung der Ressource „Leerstandsgold“ reduzieren. Insbesondere wenn Potenziale aufgezeigt werden und sich wirtschaftlich im Ort abbilden. Vorarlberg, Kärnten, Tirol, Südtirol machen in dieser Hinsicht viel vor. Wir möchten jedoch nicht ein copy-paste Prinzip suggerieren, indem Projekte einfach übertragen werden. Vielmehr geht es uns um die Hervorhebung unverwechselbarer Eigenheiten niederösterreichischer Ortschaften. Vielleicht gibt es ja bald den „Niederösterreichischen Weg“ der Orts- und Objektentwicklung?
Welche Auswirkungen hat die Klimakrise unmittelbar auf das Baugeschehen, was bedeutet sie für Architektur und Baukultur?
Weiter wie bisher geht nicht mehr. Im Wesen des Bauens steckte ja stets die Weiterentwicklung und Adaption. Unserer Ansicht nach sieht man das gut wie früher gebaut, optimiert und wiederverwendet bzw. auch repariert wurde. Heute werden wir den Eindruck nicht los, dass mit der Wohlstandsgesellschaft, insbesondere in der Nachkriegszeit bis heute, ein ganzes Stück Baukultur verloren gegangen ist. Insbesondere wie man mit Materialien aus der Umgebung umgeht, dicht einander baut, um Synergieeffekte zu nützen und wie man Teil der Umwelt wird, ohne sie zu zerstören. Heute können Materialien global abgegraben und eingeschifft, beliebig die Temperatur des Hauses, unabhängig von den äußeren Verhältnissen, eingestellt, Pools mit Trinkwasser gefüllt und zusätzlich ein Haus (carport) für das Auto gebaut werden. Wir haben den Einklang mit der eigenen Lebensumgebung verloren und sind einem fehlgeleiteten Luxus, der von Teilen der Industrie stark befeuert wird und letztens uns allen schadet, verfallen. Deshalb sprechen wir gerne vom wirklichen Luxus, wo man leerstehende Gebäude reaktiviert, im Ortszentrum lebt aber trotzdem Privatsphäre genießt, mit Materialien und Handwerker:innen aus der Umgebung renoviert und schlussendlich auch mehr Geld in der Tasche übrig hat. Deswegen arbeiten wir auch stark in Richtung Bewusstseinsbildung, Entwicklung von neuen Narrativen und der Vermittlung von guten Projekten. Da das Baugeschehen einer der Hauptverursacher der Klimakrise ist, sehen wir die Architektur und Architekturschaffende stark in der Verantwortung. Deswegen müssen auch Allianzen zu allen Akteuren und vor allem zur gesellschaftlichen Mitte (wieder) hergestellt werden. Nur so können wir eine neue Verantwortlichkeit mit einer veränderten Ästhetik durch Bewusstsein verankern.
Barbara Calas-Reiberger und David Calas, ORTE-Mitglieder, im schriftlichen Interview, Februar 2025.
Barbara Calas-Reiberger ist Architekturschaffende mit Schwerpunkt Bauen im Bestand, Denkmalpflege und Leerstandsaktivierung. Selbstständig tätig im Waldviertel und Wien als Büroleiterin im Studio Calas, als Architekturvermittlerin bei NÖ GESTALTE(N)/St. Pölten, als Kuratorin von Ausstellungen mit architektonischen Schwerpunkten sowie Gründerin der #dieTextilfabrik zur Leerstandsaktivierung der ehemaligen Strickwarenfabrik in Hirschbach/NÖ.
David Calas ist Architekt, Urbanist/Ruralist und Lehrender sowie Gründer des maßstabsübergreifend agierenden Studio Calas in Wien, wo er sich mit fließenden Übergängen zum Urbanen, zum Ländlichen, zur Architektur und zum Aktivistischen beschäftigt. Die realisierten Projekte haben theoretische-, forschungs- sowie praxisorientierte Ursprünge und lassen kontinuierliche Perspektivenwechsel zu.