Mitglieder im Gespräch
Hier werden Mitglieder von ORTE zum Interview gebeten und vorgestellt.
weiterlesen …Liebe Carina, warum hast du die Architektur als Berufsfeld gewählt? Erinnerst du dich an den ersten Impuls, der zu deiner Berufswahl geführt hat?
Bei der Wahl des Studiums folgte ich meinem Bauchgefühl, dass Architektur ein breites Spektrum an – abstrakt gesagt – gesellschaftlich relevanten Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Architektur ist kein klar abgestecktes Feld. Die Schnittstellen zu anderen Disziplinen sind immer da, was einen unglaublichen Reiz ausmacht.
Mit welchen Aufgaben setzt du dich momentan beruflich auseinander?
Gemeinsam mit Studierenden der Angewandten Kulturwissenschaften der Alpen-Adria Universität Klagenfurt beschäftige ich mich derzeit zusammen mit Lukas Vejnik mit Widerspruch und Komplexität der Erneuerung im Wohnbau. Das Verschwenden wertvoller Ressourcen ist – trotz des wachsenden Bewusstseins für eine verantwortungsvolle Klimapolitik – in vollem Gange; gerade in der Bauwirtschaft. Abriss und Neubau sind nichts Neues, werden aber heute schnell mit dem Argument des Klimaschutzes legitimiert. Der Gebäudebestand – Träger von grauer Energie, bestehenden Nachbarschaften, gewachsenen Qualitäten – weicht Neuem, in dem all das erneut aufgebracht und mühevoll, oft durch gelenkte Prozesse, versucht wird, herbeizuführen.
Welche Auswirkungen hat die COVID-19-Krise unmittelbar auf das Baugeschehen, was bedeutet sie für Architektur und Baukultur, so sie länger andauern sollte? Wird deiner Einschätzung nach etwas anders sein, wenn diese Zeit überstanden ist?
Die aktuelle Situation zeigt uns ganz ungeschminkt, wo die Schwachstellen im System und wo die Herausforderungen für eine humanere Trendwende liegen. Das betrifft alle Bereiche unseres Lebens, und natürlich auch das Bauwesen. Die Aufforderung „Bleiben Sie zuhause!“ kehrte die einzelnen Wohnrealitäten und den derzeitigen Zustand des Wohnens noch klarer hervor. Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf für den Wohnbau und die Wohnpolitik: Wohnraum darf nicht als Betongold gehandelt werden, damit er leistbar für alle ist. Mietverträge müssen unbefristet sein, damit Wohnen kein Ablaufdatum hat. Wohnungen dürfen nicht leer stehen, denn sie werden dringend gebraucht. Wohnbau darf keinen Minimalstandard produzieren, sondern muss qualitative Höchstleistungen schaffen, die Generationen überleben und überzeugen. Wie wir zukünftig qualitativen Wohnraum gerecht verteilen, wird wesentlich über den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die zu tragenden Kosten unserer Gemeinschaft entscheiden. Die derzeitigen Herausforderungen sollten uns nicht entmutigen, sondern ermutigen, innezuhalten und die Weichen neu zu stellen.
Zur regionalen Situation in Niederösterreich: was sind die dringendsten Fragen, auf die die Architektur und Raumplanung in den nächsten Jahren wird Antworten liefern müssen?
Leistbarer qualitativer Wohnbau und leistbare komfortable Mobilitätsangebote für einen nahtlosen Nahverkehr. Diese zwei Aufgaben stehen in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Daher sind sie gleichzeitig zu denken und gemeinsam zu entwickeln. Welche Anreize können wir für das gemeinschaftliche Wohnen und Mobilsein schaffen, damit die Individualisierung in Form des Einfamilienhauses und PKWs entzaubert wird? Wie wir wohnen und uns bewegen sind zwei wesentliche Faktoren des ökologischen Fußabdrucks. Damit sind insbesondere Bodenversiegelung, ungenutzte Kapazitäten in Form von Leerstand und CO2-Emmissionen verbunden. Darüber hinaus ist das Kollektive, die Nähe zueinander, eine der zentralen Antworten auf Vereinsamung und den Verbrauch von Ressourcen. Das gilt nicht nur für Niederösterreich.
Gibt es für dich eine Epoche oder eine Person in der Architekturgeschichte, die dich inspiriert und die Anregungen für das heutige Bauen bieten kann?
Eine Person, deren Wohnbauten mich seit längerem fesseln, ist die Architektin Rénée Gailhoustet. Ihr 1982 fertig gestelltes Terrassenhaus Le Liégat ist ein wunderbares Beispiel für qualitativen öffentlichen Wohnbau, der in seiner Dichte und Größe Freiraum für Individualität schafft. Deshalb gleicht auch kaum ein Wohnungsrundriss dem Anderen. Hinter der unregelmäßigen Fassade orientieren sich die hellen ein- oder zweistöckigen Wohnungen in verschiedene Himmelsrichtungen. Ihnen vorgelagert sind großzügige Gartenterrassen. Die heute 91-jährige Architektin wohnt seit dem Bezug in einer der Wohnungen. Ein Zeichen für eine Planerin, die – wie es scheint – auch selbst von ihrem Entwurf überzeugt ist.
Nachdem du auch international tätig bist, wie schätzt du Dynamik und Qualität des heimischen Architekturschaffens ein – im Vergleich mit anderen europäischen Ländern?
Qualität und Know-how sind auf alle Fälle vorhanden. Bei Vergleichen tue ich mir schwer, denn das Verglichene baut immer auf verschiedenen Ausgangslagen auf. Derzeit finde ich in Paris viel Inspirierendes, wo der planungspolitische Gestaltungswille groß ist. Innerhalb kürzester Zeit transformiert sich die Autostadt in eine Fahrradstadt. Auf Flachdächern wachsen riesige Grünräume für Permakultur. Und im Vorort Ivry-sur-Seine entsteht ein Quartier aus Lehm, der aus den Großbaustellen von Grand Paris wie zum Beispiel dem Tunnelbau des Grand Paris Express kommt. Bei diesen Großprojekten stellt sich immer auch die Frage, welche sozioräumlichen Konsequenzen sie mit sich bringen.
Carina Sacher im schriftlichen Interview, Oktober 2020. Derzeit lehrt sie am Institut für Kulturanalyse an der Alpen-Adria Universität in Klagenfurt. Von 2017 bis 2020 war Carina Sacher wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Anne Lacaton am Departement Architektur der ETH Zürich. Seit 2019 ist sie im ORTE-Vorstand.
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