Johanna Digruber
im Gespräch
Wie bist du auf ORTE aufmerksam geworden?
ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich wurde vor über 30 Jahren gegründet. Seitdem leistet es Wesentliches für die Baukultur und verwandte Bereiche. Baukultur ist ein zentraler Schwerpunkt meiner Arbeit, da sie sich mit dem Entwicklungspotenzial von Regionen und Orten sowie den Lebensräumen vor Ort befasst. ORTE ist eine unverzichtbare Plattform, um die Bevölkerung zu sensibilisieren und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.
Wie kam es, dass du Architektur studiert hast? Erinnerst du dich an den auslösenden Impuls?
Der Impuls kam von Sommermomenten meiner Kindheit. Eine Architektenfamilie aus Deutschland verbrachte regelmäßig die Sommerfrische in der Frühstückspension meiner Eltern. Gemeinsam bauten wir farbenfrohe Flugdrachen in verschiedenen Formen. Die Gestaltung und Konstruktion dieser Drachen sowie das anschließende Ausprobieren haben meine Begeisterung für Gestaltung geweckt.
Wohin hätte dich deine berufliche Leidenschaft geführt, wenn du nicht Architektin geworden wärest?
Neben meiner Tätigkeit als Architektin bin ich Nebenerwerbslandwirtin in Mitterbach am Erlaufsee. Dort möchte ich für mich neue Ansätze, etwa der Revitalisierung von Fischteichen oder der Erforschung von Böden im Zusammenhang mit Ernährungsmöglichkeiten ausprobieren. Besonders interessieren mich die Herausforderungen des Klimawandels und die regionale Lebensmittelversorgung.
Gibt es eine Epoche oder eine Person in der Architekturgeschichte, die dich inspiriert?
Gion Caminada und Peter Zumthor inspirieren mich besonders. Sie schaffen es, traditionelle Materialien und Techniken in eine moderne, zeitlose und nachhaltige Architektursprache zu übersetzen. Ihre Werke zeigen, wie Architektur in die Landschaft eingebettet werden kann. Diese Ansätze bieten viele Anregungen für das heutige Bauen, insbesondere im Hinblick auf die bewusste Materialwahl.
Welche Aufgaben beschäftigen dich derzeit beruflich?
Das Projekt „Handwerk & Baukultur in der Weltkulturerbe-Region Semmering“ startete 2022 mit einem mehrstufigen Beteiligungsprozess. Dank der Förderung im Rahmen der „Ländlichen Innovationspartnerschaften“ können wir unsere Arbeit kontinuierlich fortsetzen. Ziel ist es, durch die Schaffung von Handwerkerhöfen das traditionelle Handwerk zu fördern und die Vernetzung von Kultur, Identität und regionaler Wertschöpfung zu stärken.
Diese Handwerkerhöfe sollen als Orte der Zusammenarbeit, Schulung und Präsentation dienen, um eine nachhaltige Zukunft der Region sicherzustellen. Gemeinsam mit der Bevölkerung, politisch Verantwortlichen und Expert:innen entwickeln wir machbare und nachhaltige Visionen und Strategien, die ökologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte miteinander verbinden.
Wir beschäftigen uns außerdem mit der Adaptierung leerstehender oder mindergenutzter, jedoch baukulturell wertvoller Räume. Dabei fokussieren wir uns auf mögliche Nutzungsszenarien und die bewusste Materialwahl.
Was würdest du – im Zusammenhang mit deinem beruflichen Umfeld – gerne ändern können?
Ich würde die Zersiedelung und den Neubau auf der „grünen Wiese“ stoppen. Österreichs Bodenversiegelung ist dramatisch hoch. Stattdessen sollte man auf Bauen im Bestand und die Wiederbelebung leerstehender Ortszentren setzen. Dies hätte soziale und ökonomische Vorteile, da die Abwanderung der Jugend und der Facharbeiter:innenmangel langfristig auch den Gemeinden schaden.
Zur regionalen Situation in Niederösterreich: Was sind die dringendsten Fragen, auf die die Architektur und Raumplanung in den nächsten Jahren wird Antworten liefern müssen?
Wie bereits erwähnt, sind der Flächenfraß, die Abwanderung und der Verlust an Handwerksbetrieben zentrale Themen. Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels sowie die Notwendigkeit neuer Mobilitätskonzepte und verbesserter Infrastrukturen.
Zudem müssen wir die Identität unserer Orte bewahren. Diese wird nicht nur durch hochwertige Baukultur geprägt, sondern auch durch immaterielles Kulturerbe wie Dialekte, Rituale oder Handwerkskünste. Eine nachhaltige Entwicklung kann nur in einem gemeinsamen Kraftakt entstehen, getragen von den hier lebenden Menschen.
Und es gibt noch andere Fragen, die sich stellen: Welche Identität haben unsere Orte, wer oder was prägt diese?
Die Identität der Orte wird nicht nur durch hochwertige Baukultur geprägt, sondern auch durch das immaterielle Kulturerbe – siehe dazu auch die Liste. Dazu zählen Handwerkskünste ebenso wie Dialekte, Rituale und Feste oder das Wissen um die Natur.
Wo sind die gebauten Zeugen unterschiedlicher Epochen, mit ihren typischen und unverwechselbaren Eigenheiten, die mit den Orten und ihren Bewohner:innen verbunden sind?
Diese materiellen Zeugen gibt es überall auf der Welt, typischerweise immer entstanden durch die Kombination von Landschaft, Natur, zur Verfügung stehenden regionalen Materialien, dem Klima, den Nutzungsanforderungen und natürlich auch den spirituellen, sakralen oder repräsentativen Wünschen der jeweiligen Auftraggeber:innen
Welche Auswirkungen hat die Klimakrise unmittelbar auf das Baugeschehen, was bedeutet sie für Architektur und Baukultur?
Die Klimakrise ist korrekter als Klimawandel zu verstehen, da sie langfristige unumkehrbare Veränderungen mit sich bringt. Durch die kommenden Extremwetterereignisse muss Architektur neu gedacht werden. Städte und Bauwerke müssen widerstandsfähiger gegenüber klimatischen Herausforderungen werden. Architekturschaffende entwickeln bereits innovative Konzepte, doch die praktische Umsetzung hinkt hinterher.
Johanna Digruber, ORTE-Mitglied, im schriftlichen Interview, Jänner 2025.
Johanna Digruber ist Gründerin von HARDDECOR ARCHITEKTUR gemeinsam mit Christian Fröhlich. Das Studio arbeitet im Spannungsfeld von Architektur, Kunst und Medien. Im Kontext von Stadt/Landschaft („Künstliche Naturen“) und Atmosphären („natürliche Kunsträume“) steht Forschung und Experiment im Vordergrund.
Wesentliche Inhalte ihrer Arbeit sind der sorgsame Umgang mit dem Bestand, die Reduktion der aufgewendeten Energie sowie die Angemessenheit der Mittel. Christian Fröhlich sensibilisierte 2023 mit dem Entsiegelungsprojekt und dem 1. Meidlinger Klimamanifest für die Notwendigkeit der Verwandlung von Verkehrsflächen in Grünflächen.
Johanna Digruber arbeitet seit 2023 am partizipativen Projekt „Handwerk & Baukultur in der Weltkulturerbe-Region Semmering“