Mitglieder im Gespräch
Hier werden Mitglieder von ORTE zum Interview gebeten und vorgestellt.
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Lieber Thomas Abendroth, Sie sind schon sehr lange als Mitglied bei ORTE dabei, das freut uns! Wie sind Sie auf ORTE aufmerksam geworden? Haben Sie einen speziellen Bezug zu Niederösterreich, bzw. was war Ihre Motivation sich hier für Baukulturvermittlung einzusetzen?
Niederösterreich, als größtes Bundesland der Republik, hat im direkten Vergleich mit dem äußersten Westen Österreichs noch viel Potential in der Dichte guter und gut ausgeführter Architektur. Um hier das Bewusstsein für Baukunst zu vergrößern, ist Architekturvermittlung ein wichtiges Instrument. ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich gibt mit seinem vielschichtigen Programm dabei seit Jahren wertvolle Impulse.
Als einer der Bauberater:innen der Baudirektion–Ortsbildpflege, NÖ Gestalten ist mir die Verbesserung der Architekturqualität im Land durch Basisarbeit ein Anliegen. Die meisten meiner bisher 250 Beratungen führten mich ins Weinviertel. Die Beratungen gibt es schon seit fast 30 Jahren in ganz Niederösterreich. Es wurden schon viele Impulse für gute Architektur gegeben.
Wie kam es, dass Sie Architektur studiert haben? Erinnern Sie sich an den Impuls dazu?
In meinem Elternhaus war ich stets mit Kunst, Design und Architektur umgeben. Die Firma Rosenthal, bei der mein Vater u. a. als Werksleiter der Amboss Besteckfabrik in Neuzeug bei Steyr beschäftigt war, hatte als Auftraggeberin das Who is Who der Kreativszene bei sich beschäftigt.
Im bayerischen Selb, dem ersten Ort meiner Kindheit und Jugend sowie dem Firmensitz von Rosenthal, war ich mit Gropius‘ Fabriken (Rosenthal am Rotbühl, Glaskathedrale Amberg), dem Barockschloss Erkersreuth mit seiner 1960er Jahre Designausstattung von Viktor Vasareli bis Verner Panton, der Rosenthal Fabrik mit Fassaden von Morandini, Hundertwasser und Otto Piene sowie mit der gesamten Design- und Kunst-Produktpalette der Rosenthal AG konfrontiert.
Die alte Eisenstadt Steyr, dem zweiten Ort meiner Kindheit und Jugend, bot mir Bauten aller Stilepochen, vom gotischen Profanbau (Bummerlhaus) bis zur modernen Pfarrkirche "Josef der Arbeite"‘ auf der Ennsleite (Johann Georg Gsteu mit der Arbeitsgruppe 4 -Kurrent, Spalt, Holzbauer, Leitner), in der ich in den 1970er Jahren an den legendären FIO Jazzmessen teilgenommen habe. Für meine spätere Arbeit als Architekt war ich jedenfalls baukulturell gut imprägniert.
Wohin hätte Sie ihre berufliche Leidenschaft geführt, wenn Sie nicht Architekt geworden wären?
Der kreative Bereich hat mich immer angezogen. Zeitgenössischer Tanz und Modedesign wären weitere Bereiche meines Interesses gewesen oder auch die Grafik.
Welche Aufgaben beschäftigen Sie derzeit beruflich?
Ich arbeite gerade an der Ausstellungsgestaltung "Schöner Essen – Amboss Design 1950 bis 1970" für das Möbelmuseum Wien, ehemals Hofmobiliendepot, welche ab Herbst 2022 circa ein halbes Jahr zu sehen sein wird. Die Initiative für diese Ausstellung ging von mir aus. Als Bestecksammler habe ich seit Jahren versucht eine solche Präsentation ins Leben zu rufen. Amboss Design war seiner Zeit weit voraus. Carl Auböck, Helmut Alder und Janos Megyik, um nur einige Designer zu nennen, haben Maßstäbe gesetzt, die auch international Beachtung fanden.
Bei der Erweiterung eines Weingutes bedarf es Fingerspitzengefühl beim Umgang mit seiner Lage im Nationalpark Neusiedler See. Es gilt einen pannonischen Streckhof mit zeitgenössischen Mitteln zu ergänzen.
Energieeffizienz und Nachhaltigkeit sind Grundbedingungen für die verschiedenen Wohnbauten und Sanierungen, die mein Team und ich derzeit zu bearbeiten haben.
Die Errichtung mehrerer Arztpraxen und einer Primärversorgungseinheit erfordern spezifische Kenntnisse hinsichtlich des Ordinationsablaufs, der Barrierefreiheit und der Hygienemaßnahmen. Wichtig ist mir dabei, eine Atmosphäre mit einer gesunden, positiven Ausstrahlung zu erzeugen. Ich arbeite dabei mit Farb- und Materialkombinationen sowie mit Lichtstimmungen.
Gibt es eine Epoche oder eine Person in der Architekturgeschichte, die Sie inspiriert und die Anregungen für Sie oder überhaupt das heutige Bauen bieten könnte?
Ausgehend von meinem Anliegen der Nachhaltigkeit interessiert mich die Reduktion, die ja Ästhetik und Verzicht optimiert. Flächeneinsparung durch variable Möblierung kann man zum Beispiel in der Wiener Werkbundsiedlung studieren. Tadao Ando und Shigeru Ban inspirieren mich als Vertreter der japanischen Architektur. Das Bauen auf engem Raum und die Wiederverwendung oder der Einsatz von neuen Materialien finde ich hier wie dort spannend.
Was würden Sie – im Zusammenhang mit Ihrem beruflichen Umfeld – gerne ändern können?
Es fehlt an Nachevaluation von Gebäuden. Die Erfahrungen von Nutzer:innen gelangen selten an die Adresse der Planenden, was man am Schulbau gut beobachten kann. Warum dauert es halbe Jahrhunderte bis etwa mehr Toiletten für Frauen oder größere Türhöhen in der Bauordnung verankert werden?
Es fehlen Daten über die Nutzung von Bauwerken und öffentlichem Raum, ich meine hier eine genderspezifische Differenzierung. Die Verkehrsplanung könnte anders aussehen, da Frauen den öffentlichen Raum anders benutzen. Personen, die Care Arbeit übernehmen, die Kinder in die Schule bringen, einkaufen und Altenbetreuung verrichten und sich dann erst in die Arbeit begeben, sind auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Sie halten sich lange bei Bushaltestellen auf und brauchen beispielsweise breite Gehsteige; Sicherheit und gute Beleuchtung im öffentlichen Raum sind für sie wichtig. Die meisten Planungen werden von Männern gemacht mit Daten, von denen Männer glauben sie seien für die gesamte Bevölkerung repräsentativ.
Zur regionalen Situation in Niederösterreich: was sind die dringendsten Fragen, auf die die Architektur und Raumplanung in den nächsten Jahren wird Antworten liefern müssen? Auch in Bezug auf die Nachwirkungen der Pandemie?
In Niederösterreich, wie auf der ganzen Welt, ist die Reaktion auf den Klimawandel die wichtigste Aufgabe. Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrsnetzes mit möglichst kurzem Takt (in der Schweiz von jedem Bergdorf alle halbe Stunde) und eine Raumplanung, die der Nachhaltigkeit verpflichtet ist, sind dringlicher denn je. Nahversorgung muss wieder ohne Auto möglich sein. Die rasante Flächenversiegelung in Österreich muss hinterfragt werden, dabei sollte die örtliche Entscheidungshoheit überregionalen Zielen untergeordnet werden
Welche Auswirkungen hat die Klimakrise unmittelbar auf das Baugeschehen, was bedeutet sie für Architektur und Baukultur?
Architektur ist lebendig, sie wird sich an veränderte klimatische Bedingungen anpassen ohne an Ästhetik einzubüßen. Unter diesen Umständen müssen wir zum Beispiel die Südausrichtung von Gebäuden und die Fenstergrößen überdenken, was sich wiederum auf die Gestalt der Architektur auswirken wird. Der Städtebau sollte sich jetzt an wärmeren Ländern orientieren und die Gebäudeabstände hinsichtlich der Beschattung verringern sowie mehr Arkaden anbieten. Die dabei entstehende Verdichtung hilft uns auch beim Kampf gegen den Flächenfraß. Vor allem die Sanierung muss vorrangig behandelt werden, auch in der Förderlandschaft.
Welche Rolle spielen Architekt:innen in der Gesellschaft heute? Wie politisch ist Architektur?
Mit Architektur können Machtverhältnisse bestätigt oder beeinflusst werden. Wir Architekt:innen sollten unseren Spielraum nutzen, da wir in ganz anderen Intervallen denken und agieren können als es zum Beispiel in der Politik möglich ist.
Den Besuch welchen Gebäudes, welchen Ortes können Sie Architekturaffinen empfehlen; welche Stadt oder welches Bauobjekt hat Sie persönlich zuletzt begeistert?
Lange habe ich mich gesträubt, mir das von Zaha Hadid entworfene Library and Learning Center der Wirtschaftsuniversität Wien auch von innen anzusehen. Der weit über den Platz auskragende Teil des Gebäudes und die stürzenden Fassaden haben mich davon abgehalten. Ich bin der Meinung, dass nicht alles was statisch möglich ist, auch im architekturpsychologischen Sinne für das Empfinden von Baumassen durch Menschen ratsam ist.
Dennoch war ich begeistert, als sich mir im letzten Sommer die inneren Qualitäten dieses Werkes erschlossen haben. Der kompromisslose Futurismus dieses Bildungszentrums bietet den Studierenden eine Atmosphäre des Aufbruchs und der Wertschätzung. Höchste Designqualität verdichtet sich mit räumlicher Raffinesse zu einem Meisterwerk der Baukunst.
Architekt Thomas Abendroth im schriftlichen Interview, Januar 2022. Abendroth war zehn Jahre lang Vorstandsmitglied der IG Passivhaus und der Innovativen Gebäude und auch einmal im ORTE Vorstand. Er ist Klima-Aktiv-Partner, Bauberater des Landes NÖ–Baudirektion Ortsbildpflege sowie Gründer der Label Medlounge und Sanieren.pro.
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