Johann Kräftner "Naive Architektur in Niederösterreich"
Naive Betrachtungen von Michael Franz Woels
„Ein wesentlicher, ja sogar der wesentliche Eingriff des Menschen in die Natur überhaupt ist das Bauwerk“, konstatierte der in St. Pölten geborene Architekt Johann Kräftner in den 1970er Jahren in seinem Fotobuch „Naive Architektur in Niederösterreich“. Die Publikation als solche war damals ein großer Erfolg.
Die niederländische Architektin und Stadtplanerin Daniëlle Huls legt am letzten Tag ihrer Residency in Krems einen großen Stapel Bücher behutsam am Bürotisch ab. Während ihres einmonatigen Aufenthalts hat sie sich mit der Typologie der österreichischen Vierkanthöfe beschäftigt und einen Vergleich zwischen diesen und den niederländischen Carréboerderijs angestellt. Ein Buch ihrer Fachliteratur-Auswahl zieht mich durch die zeitlos-schöne Schwarzweiß-Aufnahme eines Presshauses mit Walmdach, das von fünf laublosen Bäumen flankiert wird und wie ein kubistisch aus dem Boden gewachsener Steinpilz erscheint, in Bann.
„Durch den Baum steht das Bauwerk nicht mehr für sich alleingelassen, sondern bildet durch diese Bepflanzung verankert einen feststehenden Topos der Kulturlandschaft. Das Bauwerk erhält vom Baum die Dimension“, lese ich später in diesem Fotoband mit dem etwas eigentümlichen Titel „Naive Architektur in Niederösterreich“. So wie Daniëlle Huls in Nieder- und Oberösterreich die monumentalen Vierkanthof-Bauwerke erkundet, versucht Johann Kräftner in chiaroscuro-artigen Fotografien den vergänglichen Spuren in der bäuerlichen Landschaften zu folgen. Als junger Architekt mit großem Interesse an Kunstgeschichte und Denkmalschutz beschäftigte sich der spätere Ausstellungsgestalter und Museumsdirektor Johann Kräftner intensiv mit der lokalen bäuerlichen Architektur.
In Architekt:innenkreisen ist es in den späten 1960er Jahren zeitgeistig, sich mit ländlichen Bauwerken in südlicheren Gefilden zu beschäftigen. Man bewunderte die Einheit von Landschaft und gebauter Umwelt in der Toskana. Nach einem dieser Besuche in der Toskana durchstreift Johann Kräftner wieder die Umgebung seiner Heimatstadt St. Pölten, damals noch ein „Weichbild einer verschlafenen Kleinstadt“. Er ist, wie auch die Niederländerin Daniëlle Huls während ihrer Artist in Residency Zeit, mit dem Fahrrad unterwegs. Zuerst in den Niederungen des Traisentals oder im Dunkelsteiner Wald. Bald dehnen sich die Streifzüge durch das Wald- und Weinviertel aus. Wie in der Toskana findet er engverwobene Strukturen von Landschaft und Siedlungsräumen. Hier in Österreich erkundet er Wirtschaftsviertel, Scheunenstraßen und Kellergassen mit ihrem Bezug zur landwirtschaftlichen Kultur.
In den 1960er Jahren erschienen bedeutende Publikationen zu diesen vernakulären Phänomenen: Roland Rainer setzt sich in „Anonymes Bauen: Nordburgenland“ mit der damals fast verfemten ehemaligen Architektur armer, leibeigener Bauern auseinander. Raimund Abraham veröffentlicht den Band „Elementare Architektur“ gemeinsam mit dem Fotografen Josef Dapra, der ähnlichen Aspekten in Tirol gewidmet ist. Aber durch die Erbfolge mit anderen sozialen Voraussetzungen für den Umgang mit den oft sehr traditionsreichen Bauernhäusern, der bis heute gegeben ist. Ebenfalls in den 1960er Jahren hat der Architekturkritiker und Kulturtheoretiker Bernhad Rudovsky den Begriff der „Architektur ohne Architekten“ für traditionelle, vernakuläre Bauweisen geprägt, auch wenn die Übersetzung von „Architecture Without Architects. A short introduction to non-pedigreed architecture” ins Deutsche erst Ende der 1980er Jahre erscheint.
Johann Kräftner veröffentlicht schließlich in den 1970er Jahren seine fotografischen Dokumentationen „altartigen Siedelns und Bauen“ in Form des Bildbandes „Naive Architektur in Niederösterreich“. Der Begriff „Naive Architektur“ wird daraufhin intensiv diskutiert, ebenso der Nutzwert und die Erhaltungswürdigkeit dieser Siedlungs- und Wirtschaftsensembles. Die Publikation als solche ist ein großer Erfolg und wird mit dem österreichischen Staatspreis bedacht. Viele von diesen fotografisch festgehaltenen, einstigen Kulturlandschafts-Elementen sind heute schon verschwunden, auch weil Nutzungen und Bedürfnisse der Menschen sich drastisch verändert haben. Oder in den Worten von Johann Kräftner: „Kulturlandschaft ist das Ergebnis, nein, noch präziser: der gegenwärtige Zustand des ständigen Ringens des Menschen mit der Natur. Dort, wo die Kulturlandschaft die Chance besitzt, in den Dämmerschlaf der Naturlandschaft zurückzufallen, oder wo Kulturlandschaft gerade ansetzt, Naturlandschaft zu überformen, dort ist Landschaft imstande, Menschen in seinen Bann zu ziehen, ihn zu fesseln.“
Im Vorwort schreibt der Architekt, Städtebauer und Bildhauer Rob Krier, ein Lehrer von Johann Kräftner, der mit seinem in den 1970er Jahren erschienen Manifest „Stadtraum in Theorie und Praxis“ und seiner Lehrtätigkeit an der TU Wien Generationen von Architekturstudierenden prägte: „Die Meisterwerke bäuerlicher Baukunst sind Zeugen einer außerordentlich hochstehenden Kulturepoche, die fern von billigen Spekulationen Werte geschaffen hat, die für einen modernen Architekten ein offenes Lehrbuch über die Identität und Wahrhaftigkeit zwischen Funktion, Konstruktion und Bauform darstellen. An ihnen kann er mehr lernen als an den uns wohlbekannten, technisch hochfrisierten modernen Architekturen.“
Auch Johann Kräftner will diese ursprünglichen Bauwerke verstehen: „Der lange Weg des Kennenlernens ist nicht deshalb notwendig, weil Naive Architektur so ungeheuer schwer zu lesen oder anspruchsvoll wäre. Es ist genau umgekehrt: Sie ist so elementar und durch ihre archetypischen Grundformen in tiefen Schichten des menschlichen Bewusstseins verankert, das nur der mit ihr in Beziehung treten kann, dessen Sensibilität und Aufnahmevermögen nicht von tausenderlei Dingen verschüttet sind. Nicht die Bauten sind unbrauchbar geworden, sondern der Mensch hat sich seit ihrer Errichtung so sehr gewandelt, dass er offensichtlich nichts mehr mit ihnen anzufangen weiß. Dabei ist es ein faszinierendes Erlebnis, das Wesen der Naiven Architektur zu ertasten und zu begreifen.“
Doch warum der Begriff der oft negativ konnotierten Naivität? „Naive Architektur schöpft den einen Teil ihrer Monumentalität aus den meist verwendeten archetypischen Grundformen, den anderen bestimmt aber aus der innigen Beziehung zur Natur. Die unbändige Kraft, die dieser Idee Leben gibt und sie Wirklichkeit werden lässt, ist die Naivität; Naivität nicht in der abschätzigen Bedeutung des Wortes, sondern im Sinne von angeboren, natürlich...“, erläutert Johann Kräftner. Im Gegensatz dazu sieht er einen Großteil des aktuellen Baugeschehens: „Seit in der Architektur Originalität und Genialität zu den entscheidenden Kriterien zur Beurteilung ihrer Qualität geworden sind, hat sie sich immer mehr vom Bauschaffen breiter Massen entfernt und ihm jede Möglichkeit einer organischen Weiterentwicklung genommen.“
Die Auswirkungen der unaufhörlichen Zersiedelung sind schon in den 1970er Jahren spürbar: „Wollen wir versuchen, die Zersiedelung und den Verbrauch der Landschaft auf der einen und die Gesichtslosigkeit der Siedlungen auf der anderen Seite in den Griff zu bekommen, müssen wir anfangen, wieder Räume zu bauen. Mit der kraftlosen Architektur unserer Siedlungshäuser, den sinnlosen Seitenabständen, den viel zu großen Parzellen und den bloß zur Koniferenzucht nutzbaren Vorgärten ist dieses Ziel nicht zu erreichen.“ Es kann kein richtiges Bauen im falschen Siedeln geben: „Die Häuser entbehren jeder Orientierung, die aus ihnen gebildeten Siedlungen – das Wort Dorf getrauen wir uns für sie sowieso nicht zu verwenden – besitzen keinerlei Kristallisationspunkt und Zentrum.“
Und man muss schon zur Polemik greifen, um die Auswirkungen und Ausprägungen der noch immer vorherrschenden Bauwut in Österreich zu verdeutlichen: „Wir sind dabei, ein Disneyland ungeahnter Ausmaße zu errichten. Warum beginnen wir nicht gleich, Kulissen an Stelle unserer Altstädte aufzustellen, mit aufgemalten Fassaden, hinter denen sich dann die gesichtslosen Innenräume unserer Büros und Wohnungen verbergen können? Bei alldem müssen wir immer eines bedenken: zuerst formt der Mensch die Architektur, dann aber die Architektur den Menschen.“
Am Ende noch ein naiver Wunsch – ein Satz, der hoffentlich auf unbestimmte Zeit seine Gültigkeit bewahrt: „Noch ist genug Substanz vorhanden, um an die alten Strukturen anzuknüpfen und eine Entwicklung, die vor Jahrhunderten begonnen hat, nicht plötzlich abzuwürgen, sondern ihre Tendenzen aufzugreifen und behutsam weiterzuentwickeln.“
Johann KRÄFTNER, Naive Architektur in Niederösterreich, Verlag Nö. Pressehaus, St. Pölten, 1977