Am 9. März 2023 fand unter dem Titel „Bodenlos?! Wie wir den Raubbau am Gemeingut stoppen“ ein ORTE-Symposium in der Landesbibliothek Niederösterreich in St. Pölten statt. 160 Personen füllten mit großer Konzentration bei dichtem Tagungsprogramm den Raum. Vorträge und Diskussionen können nun nachgeschaut werden.
„Klimaschutz, Bodenschutz und Baukultur hängen unmittelbar zusammen. Welche Maßnahmen müssen gesetzt werden, um auf diesem Feld zu umfassenden und schnell greifenden Lösungen zu gelangen?“ Mit dieser Frage richtet sich die ausgebildete Architektin, Carina Sacher, nach Begrüßung durch Peter Obricht, Abteilungsleiter für Umwelt- und Energiewirtschaft des Landes Niederösterreich und Landtagsabgeordnete Doris Schmidl an die Vortragenden:
Der Klimaökonom Gernot Wagner legt in der Keynote den Lösungsfokus auf die Städte. Dichte ermögliche das Potential für eine ökologische Lebensweise und ist damit unabdingbar für die notwendige Reduktion von Bodenverbrauch und Treibhausgasemissionen. Über seine Wahlheimatstadt sagt er: „Der Staat New York selbst ist grün, die Metropole ist dicht. Das Problem ist das Dazwischen - die Suburbs mit den Einfamilienhaussiedlungen. Und das ist hierzulande nicht anders.“ Wagner demonstriert die mögliche Lebensqualität dichter Wohnweise in der Großstadt an persönlichen Erzählungen über seine vierköpfige Familie, mit der er auf kleinem Raum im Süden von Manhattan wohnt, kein Auto benötigt und wo Nachbarschaft gelebt wird. Um vorhandene Potentiale ökologischer, städtischer Lebensweisen zu stärken, braucht es große Visionen und Strategien. So lautet beispielsweise ein Wahlversprechen des New Yorker Bürgermeisters: 50 % der Straßen werden in den nächsten vier Jahren für RadfahrerInnen und FußgängerInnen geöffnet. Der Ökonom ist davon überzeugt, dass Technologie gemeinsam mit einer städtischen Lebensweise die Antwort auf die heutigen Herausforderungen ist. Das bedeute nicht nur eine Verbesserung der Lebensqualität, sondern auch die Bewahrung und Stärkung des Landes als Grünraum, sprich als Rückgrat und Erholungsraum der Stadt.
Andreas Baumgarten, Leiter der Abteilung Bodengesundheit und Pflanzenernährung der AGES, spricht über die vielen Dienstleistungsfacetten des Bodens als Pflanzenproduzent, Wasser- & Nährstoffspeicher, CO2-Speicher sowie Filter. Die nicht erneuerbare Ressource Boden ist neben dem exzessiven Verbrauch von etwa 12 Hektar täglich in Österreich auch durch Erosion, Wüstenbildung, Versauerung und -salzung bedroht. Durch die Klimaerwärmung weist die Bodenbonität in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vor allem im Osten und Nordosten Österreichs auf einen Ertragsverlust hin. Bereits jetzt reichen die Bodenressourcen nicht zur gänzlichen Eigenversorgung in Österreich. Baumgarten betont, dass die wissenschaftlichen Kenntnisse über die landwirtschaftlich ertragreichen Böden auf Basis der Simulationsmodelle vorhanden sind. Es ist höchste Zeit, diese verbindlich zu schützen. So könnten 75% der österreichischen Produktion in der Landwirtschaft gesichert werden.
Martin Strele, Obmann des Vorarlberger Vereins „Bodenfreiheit – Verein zur Erhaltung von Freiflächen“, gibt einen Überblick über seine Initiative, die strategisch wichtige Grundstücke kauft bzw. Nutzungsrechte an Flächen erwirbt. Die Grünräume werden der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Um der bedrohten Ressource Boden eine Öffentlichkeit zu verschaffen, leistet der Verein Bildungsarbeit unter EntscheidungsträgerInnen sowie für Schulen und führt Studienarbeiten durch. Strele verdeutlicht am Beispiel des Firmenbaus der Firma Ölz, wie der Widerstand der Bevölkerung zur Verbesserung einer Projektidee beitragen kann: Anstatt wie zuvor geplant in die Breite, wurde letzten Endes doch in die Höhe gebaut.
Pia Knappitsch vom Planungsbüro 3:0 Landschaftsarchitektur und Geschäftsführerin des Vereins KlimaKonkret präsentiert anhand eines Best Practice in Niederösterreich die Gestaltungsmöglichkeiten für Entsiegelung und Klimaanpassung: Wie vielerorts, war auch das Zentrum von Lanzenkirchen ein asphaltierter Parkplatz. Neben fehlenden Aufenthaltsqualitäten gab es wiederkehrende Überschwemmungen und Überhitzung. Es wurde ein klimasensibles Ortszentrum mit unversiegeltem Veranstaltungs- und Marktplatz geschaffen, wo darüber hinaus Funktionen des täglichen Bedarfs im Neubau untergebracht wurden. Durch das hier angewandte Schwammstadtprinzip können die gepflanzten Ulmen und Silberlinden durchwurzeln. Der Boden wirkt als großzügige Versickerungsfläche, die darüber hinaus den Platz kühlt.
Podiumsdiskussion Andreas Baumgarten, Martin Strele, Nikolaus Reisel | Bürgermeister Meiseldorf, Christian Steiner | Landschaftsökologe, NÖ Agrarbezirksbehörde, Fachabteilung Landentwicklung unter der Moderation von Franziska Leeb, Architekturpublizistin, ORTE-Vorsitzende
Die Schweizer Architektin und Stadträtin für Bau und Planung in der Kleinstadt Sempach Mary Sidler ist Spezialistin im haushälterischen Umgang mit dem Boden. Sie gab einen Überblick über die „bundesweite geordnete Besiedelung des Landes“. Seit der Novellierung des Bundesraumordnungsgesetzes 2014 gibt es einen verbindlichen Schlüssel für Baulandwidmungen, die auf maximal 15 Jahre dimensioniert werden. Baulandüberhang muss je nach Ausgangslage rückgewidmet, Siedlungen nach innen entwickelt werden. Transparente Testplanungsverfahren, Machbarkeitsstudien, Ortsanalysen, echte partizipative Verfahren u.v.m. – all das ist bei schweizerischen Prozessen der Innenentwicklung nicht mehr wegzudenken. Sie gehören zu den qualitätssichernden Instrumenten, die sich Österreich – auch mit anderen gesetzlichen Ausgangslagen – für eine gute Baukultur zu Gebrauch machen könnte.
Der Vortrag von Gundula Prokop, Projektmanagerin am Umweltbundesamt für den Fachbereich Flächenmanagement und Leiterin des Brachflächen-Dialogs, liefert Aufrüttelndes: 40 km² werden jährlich in Österreich verbraucht, dabei sollen es laut Regierungsprogramm bis 2030 nur noch 9 km² pro Jahr sein. Geht es nach dem EU-Ziel im Green New Deal, dann ist bis 2050 ein Netto-Null-Landverbrauch zu erreichen. Die Reaktivierung leerstehender und untergenutzter Flächen und Gebäude können den Flächenverbrauch "auf der grünen Wiese“ zwar nicht verhindern, haben aber das Potential, ihn zu minimieren. Genaue Zahlen zu derartigen Brachflächen fehlen derzeit, da es in Österreich ein neues Aufgabengebiet darstellt. Der Brachflächen-Dialog, ein Programm des Klimaschutzministeriums, fördert Projekte wie beispielsweise den neuen Stadtteil in Bruckneudorf, der auf dem Areal einer ehemaligen Erbsenfabrik realisiert wurde. Gundula Prokop: „Brachflächen-Projekte sind notwendig, werden das Boden-Problem aber nicht lösen. Dafür wird es fiskalische Instrumente brauchen, auch wenn die Politik dieses Thema nicht liebt.“
Thomas Knoll, Gründer des Umweltbüros Knollconsult berichtet über die Bodenbilanzierung, für die das Büro vom Land Niederösterreich beauftragt ist. Knoll differenziert in seinem Vortrag die Begriffe Bodenverbrauch und Flächeninanspruchnahme, die in Form von Verbrauchsfaktoren je Widmungskategorie in die Berechnung der Bodenbilanz Eingang finden. Raumordnung betrachtet Knoll als demokratisches Instrument.
Elias Molitschnig, Architekt und zuständig für kommunale Bauvorhaben und Raumordnung im Amt der Kärntner Landesregierung, gibt Einblick in die Kärntner Baukultur. Das Bundesland hat 2019 seine eigenen baukulturelle Leitlinien entwickelt. Darin wird der Innenentwicklung vor der Außenentwicklung Priorität eingeräumt, werden die Gemeinden dabei unterstützt, Leerstand zu aktivieren und ihre Ortskerne zu stärken. Lehrgänge in Baukultur und Raumplanung für Gemeindebedienstete und -mandatarInnen sowie Planende sind Teil dieser umfassenden Wissensvermittlung. Das neue Angebot wird mit großem Interesse seitens anderer Bundesländer verfolgt und demnächst im Burgenland umgesetzt.
In zwei von der Architekturpublizistin und ORTE-Vorstandsvorsitzenden Franziska Leeb moderierten Diskussionsrunden kamen die zunehmenden Land-Nutzungskonflikte als auch die Herausforderungen für eine qualitative, ressourcen- und flächenschonende Baukultur zur Sprache. Wie gehen wir mit dem aktuell steigenden Flächenbedarf für Photovoltaik-Anlagen um? Welche Auswirkungen hat das auf die Landwirtschaft in Zeiten des Klimawandels und auf das Landschaftsbild? Warum greifen die raumplanerischen Maßnahmen nicht und wo muss nachgebessert werden? Beispiele geben Anlass zur Hoffnung, dass die Zeitenwende da und dort doch positiv genutzt wird: Meiseldorf erzeugt mit seiner Photovoltaik-Freiflächenanlage im ehemaligen Steinbruch Energie für die 750 Haushalte. In Tulln sprach sich die Bevölkerung zu 60% für die Entsiegelung und Neugestaltung des Nibelungenplatzes aus, obwohl Parkplätze wegbrechen. Mödling möchte mit eigenen baukulturellen Leitlinien für behutsameren Umgang mit Bestand, Bauland und Grünflächen sorgen. Eingriff ins Eigentum dürfe bei der Diskussion um Boden- und Klimaschutz nicht fehlen, so lauteten die Worte einzelner am Podium. Einig sind sich alle darin, dass effektiver Bodenschutz die enge Zusammenarbeit zwischen allen Fachbereichen und Transparenz in den Widmungs- und Planungsverfahren braucht. Und Rebecca Amberger von Fridays for Future Niederösterreich bringt es auf den Punkt: Es gibt die vielfach angesprochenen und möglichen Maßnahmen sowie Vorzeigeprojekte, aber es braucht Geschwindigkeit in der Umsetzung in der Breite. … Wir bleiben dran!
ORTE dankt der Landesregierung Niederösterreich für die Unterstützung, die dieses Symposium möglich gemacht hat!
Boden ist ein endliches Gut. Der sorglose Umgang mit ihm hat fatale Folgen für unsere Zukunft. Existentielle Herausforderungen stellen sich in Bezug auf Klimaerwärmung und Starkwetterereignisse, Ernährungssicherheit, Biodiversität, Gesundheit und soziale Gerechtigkeit.
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